Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 14. Mai 2019 (C-55/18) zur systematischen Arbeitszeiterfassung hat große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt. Es war die Rede davon, dass künftig alle Arbeitgeber „Stechuhren“ einführen müssten, was in eklatantem Widerspruch zur Arbeitswelt 4.0 stünde. Auch das „Ende der Vertrauensarbeitszeit“ wurde prophezeit.

Aber ist das richtig? Immerhin warnt auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vor „Schnellschüssen“, die zu weiterer Bürokratie führen und kündigte zunächst an, ein Gutachten zur Prüfung der Rechtslage einzuholen. Aus dem Bundesarbeitsministerium hört man offenbar andere Töne. Die weiteren politischen Entwicklungen bleiben abzuwarten.

Wie sollen Arbeitgeber bis zu einer solchen Klärung mit der Arbeitszeiterfassung umgehen? Wir fassen die Inhalte der EuGH-Entscheidung zusammen und zeigen rechtliche und praktische Konsequenzen auf.

1. Die EuGH-Entscheidung

Hintergrund der Entscheidung war die Klage einer spanischen Gewerkschaft, die die Deutsche Bank dazu verpflichten wollte, die tägliche Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer in Spanien vollständig zu dokumentieren. Bislang wurden dort nur die Überstunden aufgezeichnet. Nach Ansicht der Gewerkschaft sei die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten aber nur durch eine vollständige Aufzeichnung sicherzustellen, da mehr als die Hälfte der Überstunden in Spanien nicht richtig erfasst würden. Der Nationale Gerichtshof in Spanien legte dem EuGH die Frage vor, ob aufgrund europäischen Rechts die gesamte Arbeitszeit aufzuzeichnen sei.

Der EuGH kam zu folgenden Ergebnissen:

Aus der Grundrechte-Charta sowie der EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG folge das Grundrecht jedes Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten.

Die Mitgliedsstaaten müssten durch entsprechende Maßnahmen dafür sorgen, dass die Beachtung der Mindestruhezeiten sichergestellt und Überschreitungen der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit verhindert werden. Insofern müssten sie die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Hinsichtlich der konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems und dessen Form bestünde ein Gestaltungsspielraum der Mitgliedsstaaten. Dabei könnten sie die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs sowie die Eigenheiten bestimmter Unternehmen, ggf. auch deren Größe, berücksichtigen.

Die Zielrichtung ist klar – es geht um den Schutz der Arbeitnehmer. Der EuGH weist selbst darauf hin, dass es ohne ein solches System für die Arbeitnehmer als schwächere Partei des Arbeitsvertrages äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich sei, ihre Rechte durchzusetzen. Auch die wirksame Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften durch Behörden und Gerichte werde dadurch erleichtert.

2. Rechtliche Folgen der Entscheidung

Schaut man sich die deutschen Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung an, wird schnell deutlich, dass diese den Vorgaben des EuGH nicht genügen und damit die europäische Richtlinie nur unzureichend umsetzen. § 16 Abs. 2 ArbZG sieht eine Verpflichtung des Arbeitgebers vor, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu dokumentieren. Eine Pflicht zur vollständigen Dokumentation der Arbeitszeit besteht lediglich vereinzelt – bei geringfügig beschäftigten Mitarbeitern und in den vom Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz erfassten Branchen (§ 17 Abs. 1 MiLoG i.V.m. § 2a SchwarzArbG) sowie für Berufskraftfahrer.

Bedeutet dies nun, dass ab sofort die Arbeitszeitrichtlinie selbst die Arbeitgeber zur umfassenden Arbeitszeiterfassung verpflichtet? Es ist weitgehend anerkannt, dass Regelungen einer europäischen Richtlinie unter bestimmten Umständen unmittelbare Wirkung entfalten können. Dies setzt aber voraus, dass die Richtlinie eine eindeutige Verpflichtung begründet. Angesichts des vom EuGH betonten Gestaltungsspielraums der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie dürfte dies hier nicht der Fall sein. 

Auch eine richtlinienkonforme Auslegung von § 16 ArbZG scheidet angesichts des klaren Wortlautes wohl aus. Daher wird der deutsche Gesetzgeber tätig werden und die gesetzlichen Regelungen anpassen müssen – dies bietet zugleich eine Gelegenheit, sich der Debatte um eine generelle Modernisierung des Arbeitszeitrechts zu stellen.

Strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Sanktionen werden Arbeitgebern bis dahin also nicht drohen.

Allerdings ist zu befürchten, dass die Arbeitsgerichte in Verfahren um die Vergütung von Überstunden die bisher beim Arbeitnehmer liegende Beweislast für das Ableisten der Überstunden umkehren oder zumindest erleichtern werden, sofern die Arbeitszeit vom Arbeitgeber nicht vollständig aufgezeichnet wurde.

3. Künftiger Umgang mit der Arbeitszeiterfassung

Vor dem Hintergrund der EuGH-Entscheidung dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis eine gesetzliche Verpflichtung zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit in Kraft treten wird. Daher müssen sich grundsätzlich alle Arbeitgeber – vorbehaltlich der noch nicht absehbaren Ausgestaltung etwaiger Erleichterungen – darauf vorbereiten. Dies gilt insbesondere bei der Einführung neuer IT-Systeme im Personalbereich, die entsprechende Funktionalitäten idealerweise schon jetzt vorsehen sollten. Eine spätere „Nachrüstung“ kann aufwendig und teuer werden.

Ungewiss erscheint, ob das bislang häufig praktizierte Aufzeichnen der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer in Form von Stundenzetteln oder Excel-Tabellen, die entweder beim Arbeitnehmer verbleiben oder vom Arbeitgeber schlicht „abgelegt“ werden, künftig noch ausreichen wird. Dagegen spricht, dass die Aufzeichnung durch ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ zu erfolgen hat. Eine bloße „Zettelwirtschaft“, die zudem leicht manipulierbar ist, dürfte dem kaum genügen.

Die Zeiterfassung der Zukunft wird daher – gerade in kleineren Unternehmen – wohl durch entsprechende Apps erfolgen. Dies propagiert im Übrigen das Bundesarbeitsministerium schon seit längerer Zeit für den Mindestlohnbereich und stellt hierfür sogar eine eigene, relativ simpel strukturierte App zur Verfügung (Link zur BMAS-App). Selbstverständlich muss dabei den Datenschutzbestimmungen Rechnung getragen werden. Derartige Apps könnten zudem – und müssen dies vielleicht sogar – Warnfunktionen sowie eine automatische Prüfung auf Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz mit entsprechender Meldung an den Arbeitgeber beinhalten.

4. Das Ende der Vertrauensarbeitszeit?

Aber wie verhält es sich nun mit der Vertrauensarbeitszeit? Schon bisher war es rechtlich nicht zulässig, bei Vertrauensarbeitszeit komplett auf Aufzeichnungen zu verzichten, denn auch hier muss die über acht Stunden täglich hinausgehende Arbeitszeit dokumentiert werden. In der betrieblichen Praxis sieht das zwar gelegentlich anders aus, ändert jedoch nichts an der Rechtslage.

Eine echte Vertrauensarbeitszeit bliebe trotz einer Erfassung der gesamten Arbeitszeit möglich, denn sie bedeutet lediglich, dass der Arbeitgeber darauf verzichtet, die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit anlasslos zu kontrollieren und sich insoweit auf den Arbeitnehmer verlässt. Hinsichtlich der Zeiterfassung könnte sich der Arbeitgeber auch zukünftig auf gelegentliche Stichprobenkontrollen dahingehend beschränken, ob diese ordnungsgemäß erfolgt und würde ansonsten nicht auf die erfassten Daten zugreifen. Für die zuständigen Behörden müssen diese Daten natürlich zugänglich bleiben, wodurch die Feststellung von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz erheblich erleichtert würde.

Sprechen Sie uns bei weiteren Fragen zum Thema Arbeitszeiterfassung gern an.